Die meisten Menschen haben Formaldehyd als Schadstoff nicht mehr im Blick, weil sie annehmen, dass es kaum noch in Baumaterialien vorhanden ist. Das jedoch ist ein Trugschluss. Zwar gibt es viele Bauprodukte und Möbel aus heimischer Fertigung, die tatsächlich im Gegensatz zu früher weniger Formaldehyd enthalten beziehungsweise im Laborversuch weniger ausgasen.
Unter den heute üblichen Wohnbedingungen allerdings, mit im Winter oft hohen Raumlufttemperaturen und Luftfeuchtewerten, wird aus den verbauten Materialien und Möbeln doch wieder in erhöhtem Maße dieser Schadstoff emittiert und wirkt sich in den heutigen dichten Häusern noch viel stärker aus. Viele moderne Holzwerkstoffe (Spanplatten, mitteldichte Faserplatten und OSB-Platten) werden mit Klebern auf Basis von Melamin, Harnstoff und Formaldehyd hergestellt. Bei der Herstellung der Leime wird Formaldehyd mit Harnstoff versetzt, wobei Wasser entsteht, das abtrocknet. Dieser Prozess ist umkehrbar, so dass das Kunstharz wahrend der Nutzungszeit durch die Einwirkung von Luftfeuchtigkeit wieder in Harnstoff und Formaldehyd gespalten wird und Formaldehyd aus dem Holzwerkstoff ausgast. Auch Materialien aus Glaswolle und Steinwolle zum Dämmen von Wärme oder Schall enthalten bis zu 7% Formaldehyd als Zusatzstoff. Bauschäume, Farben, Glasfaservliese und Zusatzstoffe in Beton und Estrichen enthalten ebenfalls relevante Mengen an Formaldehyd. Zudem gibt es für die vor Ort, also auf der Baustelle und in der Wohnung, hergestellten oder verarbeiteten Materialien in der Regel keine Emissionsgrenzwerte. Solche Werte gibt es allenfalls für Spanplatten, wobei die Emissionen meist unter eher unrealistischen Laborbedingungen gemessen werden. Auf Grund der in der Praxis oft umfangreichen Nutzung dieser Bauprodukte oder Möbel kommt es dann nicht selten zu erhöhten und belastenden Formaldehydwerten in der Raumluft.
Der Baubiologe Thomas Jockel aus Detmold gibt Auskunft: »Seit April 2015 hat die EU Formaldehyd rechtsverbindlich als wahrscheinlich Krebs erregend beim Menschen eingestuft und hat sich damit der Meinung der WHO angeschlossen. Die WHO empfiehlt deswegen einen Richtwert in der Atemluft von höchstens 100 μg/m3 (Mikrogramm Formaldehyd pro Kubikmeter Luft).
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hingegen betrachtet Raumluftwerte noch bis 124 μg/m3 als unbedenklich. Darüber steigt die Krebs auslösende Wirkung mit der Höhe der Konzentration. Die Gesundheitsgefahr ist somit umso größer, je mehr und je länger sich das gefährliche Gas in der Atemluft befindet!“ Für das Bauwesen ist für Gebäude bei einer Zertifizierung nach der Deutschen Gesellschaft Nachhaltiges Bauen (DGNB) ein Formaldehyd-Grenzwert von 120 μg/m3 definiert, bei dessen Überschreitung keine Zertifizierung möglich ist. Ein Zielwert von 60 μg/m3 sei anzustreben.
Jockel dazu: »Die wenigsten Bauherren lassen jedoch ihr Haus zertifizieren und unter Ökoaspekten wäre selbst das zu hoch: Die Arbeitsgemeinschaft ökologischer Forschungsinstitute e. V. (AGÖF) empfiehlt als Orientierungswert lediglich höchstens 30 μg/m3. Nur damit kann man auch langfristig sicher sein.“
Da moderne Wohnungen zum einen sehr dicht gebaut seien und zudem aus Energiespargründen nur wenig gelüftet würde, so könne sich das Gas in der Raumluft stark anreichern. Durch hohe Luftfeuchtewerte ab etwa 60 % relativer Feuchte komme es zudem in den verbauten Materialien der Gebäude zu chemischen Reaktionen, die Formaldehyd erzeugen. In Räumen mit gelochten Akustikdecken sei das Risiko besonders groß, weil durch die Lochung eine große Oberfläche vorhanden sei, die gegenüber einer ungelochten Flache oft mehr als die dreifache Abgabemenge an die Raumluft erzeuge.
Und so kommt es immer wieder und immer häufiger vor, dass Baubiologen wie Thomas Jockel in untersuchten Wohnungen gesundheitsgefährdende Mengen an Formaldehyd entdecken.
Was von den meisten Menschen auch nicht beachtet werde, sei das Vorhandensein von Formaldehyd in Kleidungsstücken: »Neu gekaufte Textilien enthalten Formaldehyd bis zu 15% des Gesamtgewichts als Konservierungsstoff, als Anti-Schweißausrüstung und vor allem allem als Knitterschutz bei bügelfreier Kleidung. Solange die Kleidung nicht mehrmals gewaschen ist, kann daraus Formaldehyd ausgasen. Da die meisten Menschen ihre Kleiderschränke im Schlafzimmer haben, wird allein dadurch schon jeden Tag ihre Atemluft über viele Stunden belastet!“
»In Schlafzimmern finde ich in der Regel auch die höchsten Luftfeuchtegehalte und viele Menschen lüften oft nicht ausreichend, um die ständig ausgasenden Mengen an Formaldehyd zuverlässig aus der Atemluft der Wohnungen ins Freie abzuführen. Ob ein Formaldehyd-Problem vorliegt, kann man normalerweise nur über Messungen der Raumluft feststellen. Das geht sehr schnell und als Baubiologe kennt man auch die verdächtigen Materialien und kostengünstige Sanierungsmöglichkeiten. Von Menschen wahrnehmbar ist Formaldehyd zwar schon in geringen Mengen, aber man kann mit seinem Geruchssinn allein leider keine Quellen ausfindig machen. Natürlich kann man auch von vornherein formaldehydhaltige Materialien vermeiden, aber man kann auch sein Lüftungsverhalten optimieren oder eventuell eine Lüftungsanlage einbauen lassen. So kann man nebenbei auch die Schimmelgefahr verringern.“